„Oh mein Gott, was soll das nur werden?!“
Das war ehrlich gesagt mein erster Gedanke, als ich dieses Mensch-Hund-Team zum ersten Mal sah.
In dieser Fallgeschichte möchte ich dir erzählen, wie ich durch menschzentriertes Hundetraining Zugang zu diesem Team gefunden habe und mit wenigen, gezielten Übungen effektive Hilfe leisten konnte.
Aber beginnen wir von vorne:
Eine Hundehalterin mit zwei Hunden hat sich bei mir gemeldet. Die kleinere Hündin zeigt an der Leine Aggressionen gegenüber anderen Hunden, und die zweite Hündin beginnt nun ebenfalls, aggressiv zu reagieren. Die Spaziergänge sind mittlerweile zu einem Spießrutenlauf geworden, und die Halterin benötigt dringend Unterstützung.
Wir verabreden uns für einen gemeinsamen Spaziergang. Schon nach den ersten 100 Metern dachte ich:
„Ach du meine Güte, was soll das bloß werden?“
Es fehlt an Struktur, Ordnung und einer klaren Vorstellung davon, was die Hunde tun sollen. Und wir sprechen hier nicht einmal über Hundebegegnungen, sondern über das grundsätzliche Laufen an der Leine.
Es herrscht Chaos, gepaart mit Überforderung und Unstrukturiertheit. Die Hunde laufen kreuz und quer, werden zurückgeholt (mal sanft, mal mit einem Ruck), laufen kurzzeitig neben der Halterin und dann wieder nach vorne, alles ohne erkennbare Signale.
Puh, wo soll man da bloß anfangen?
Mein „Trainerdenken“ hätte mich normalerweise zu folgendem Ansatz geführt:
⁃ Klar strukturierte Übungen
⁃ Kleinschrittiges Arbeiten, um den Trainings- und Signalaufbau zu erklären
⁃ Ich sehe einen langen Weg vor uns, weil man quasi bei Null anfangen muss
Gleichzeitig läuft in mir jedoch ein anderes Programm ab:
⁃ Ich bewerte die Halterin, weil mir diese unkontrollierten Leinenrucks schwer anzusehen sind, und ich empfinde es als unfair den Hunden gegenüber.
⁃ Ich merke, dass es mir schwerfällt, an den Erfolg zu glauben, weil es scheinbar an allem mangelt.
⁃ Meine Motivation für diese und die folgenden Stunden sinkt drastisch.
Dann passiert jedoch etwas Entscheidendes.
Mir wird bewusst, dass ich gerade bewerte und am liebsten sofort eingreifen würde, um die Situation zu verändern. Wenn ich das jedoch jetzt tun würde, handele ich noch aus meiner Bewertung heraus, und das würde sich in meiner Wortwahl, meinen Blicken, meiner Körpersprache und letztlich auch in der Auswahl der Übungen widerspiegeln.
Meine Kundin würde das – bewusst oder unbewusst – spüren. Selbst wenn ich in freundlichen Worten mit ihr rede, während ich insgeheim denke: „Oh Mann, das wird doch nie etwas“, „Wie kann man sich nur so ungeschickt anstellen?“ oder „Ich habe gar keine Lust, mit ihr zu arbeiten, der arme Hund“, wird sich mein Gegenüber nicht angenommen und respektiert fühlen. Diese Bewertung würde nach außen dringen und mein Handeln sowie die Reaktion meiner Kundin beeinflussen. Dadurch würde auch ihre Bereitschaft, mit mir zusammenzuarbeiten, sinken.
Was kann ich also stattdessen tun?
Zunächst erkenne ich, dass ich meine Kundin bewerte, und entscheide mich bewusst dafür, umzuschalten:
„Okay, ich lasse meine Vorurteile los und möchte meine Kundin wirklich verstehen.“
Wer ist sie? Was sind ihre Stärken? Wie kann ich sie am besten abholen? Mit welchen Themen ist sie hier?
Meine empathische Wahrnehmung, die man übrigens schulen kann ☺️, und das Wissen über verschiedene Menschentypen helfen mir dabei.
Mir fällt auf, dass diese Frau eigentlich kein Problem mit Struktur und Ordnung haben sollte, da ihr diese Dinge vom Typ her eigentlich liegen müssten. Irgendetwas passt hier also nicht zusammen.
Ich stelle ihr folgende Frage:
„Sag mal, kann es sein, dass du komplett erschöpft bist? Du wirkst, als wären alle deine Reserven aufgebraucht.“
Meine Kundin ist sichtlich berührt von dieser Frage, und sie erzählt mir kurz von ihrer aktuellen Situation – keine Sorge, wir steigen nicht tiefenpsychologisch in ihre Kindheitserfahrungen ein. Es ist einfach eine kurze Beschreibung ihrer aktuellen Lage, begleitet von Emotionen. Aber hey, das gehört dazu und ist viel leichter zu begleiten, als du dir vielleicht vorstellst – also keine Angst davor 🤗. Kurz gesagt: Ja, sie ist völlig im Stress.
Alles klar, bei mir stellt sich Verständnis ein. Ich bin wieder zu 100 % bei ihr und kann nun das Bestmögliche für meine Kundin tun.
Mein neuer Gedankengang für das Training lautet daher:
⁃ Wie kann ich mit schnellen, unkomplizierten Maßnahmen eine Veränderung herbeiführen und die Situation möglichst schnell entspannen?
⁃ Kein komplizierter Signalaufbau
⁃ Mit der Kundin besprechen, was sie tun kann, um Stress abzubauen – was kennt sie schon, wo kann ich ihr noch Tipps geben?
Ich habe meinen Trainingsplan also auf das Nötigste reduziert.
Die Halterin ist überglücklich, dass der Plan für sie umsetzbar ist und so viel Stress reduziert. Das Verhalten der Hunde hat sich bereits bis zur zweiten Stunde massiv verbessert, trotz des reduzierten Trainingsplans. Jetzt geht es in kleinen, gut dosierten Schritten weiter, aber beide sind auf einem guten Weg!
Wäre ich bei meinem ursprünglichen Trainingsansatz geblieben, hätte das zu noch mehr Stress und Überforderung geführt. Das Training hätte im Grunde nicht erfolgreich sein können, auch wenn es fachlich in Ordnung gewesen wäre.
So zeigt sich, wie wichtig Menschenkenntnis und ein menschenzentrierter Ansatz sind, um das optimale Training für jedes Mensch-Hund-Team zu entwickeln.